Er konnte sie nicht aufsagen, diese federleichten Sätze, die man wie Luftballone fängt und weiterstößt. Er war einer der größten, wenn nicht der größte Wortakrobat, Worterfinder und die produktivste “Wortmaschine” der deutschen Literatur. Martin Walser hat in seiner Schaffenszeit (von etwa 1949 bis zu seinem Tod) fast sechstausend Titel vollbracht. Von Aphorismen, Sentenzen, Gedichten, Dramen, Theaterstücken, politischen Essays bis hin zu seiner umfangreichen Prosaarbeit. Walser produzierte eigentlich permanent. Sein Ehrgeiz dürfte dabei nie "geisterhaft" geworden sein.
“Die Entblößung durch nichts als Verbergung”.
Walser hüllte seine Worte nie in Gewänder, preisgegeben der Vermutung. Seine Texte waren keine körperliche Raserei oder waghalsige Unbedachtheit, sondern mehr ein “Räkeln in der Frühluft, ein kleines Spiel der Gelenke”. Als Leser seiner Werke erreichte man immer wieder Augenblicke, in denen man lebendiger gewesen war als vorher oder nachher.
Walser war ein leidenschaftlicher Schwimmer, der dabei gerne ins Schwimmen geraten ist, um zerstreut zu sein bis zur Unauffindbarkeit. Einmal, bei einem Treffen zu einem Interview in seinem Haus in Nußdorf am Bodensee, bot er mir, weil ich natürlich keine dabeihatte, eine alte Badehose von Uwe Johnson an. Ich lehnte dankend ab, die Hose war deutlich zu klein. Und das hatte in diesem Moment nicht nur ich bemerkt, alle am Tisch, es wurde Nusskuchen im Garten gereicht, lachten herzhaft.
“Nur das Lächeln, das ein anderer verursacht hat, kann schön sein.”
Martin Walser war neben Günter Grass der größte Romancier der Nachkriegsliteratur. Die Novelle “Ein fliehendes Pferd” etwa wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und überzeugend verfilmt, mit Katja Riemann, Ulrich Noethen, Petra Schmidt-Schaller und Ulrich Tukur in den Hauptrollen. Sein Roman “Ein springender Brunnen” ist sicherlich eines seiner eindrucksvollsten Werke. Er beginnt mit einem der schönsten Romananfänge der deutschen Literatur:
“Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird.”
Der Roman beschreibt Walsers Kindheit Ende der 30er Jahre am Bodensee - und zwar aus der Perspektive eines zwölfjährigen. Einige Kritiker warfen Walser darin rechte Ressentiments vor und begriffen nicht, dass das Ich eines Erzählers nie mit dem Ich des Autors gleichgesetzt werden darf. Es geht hier um die Perspektive. Auch der “Tod eines Kritikers” aus dem Jahr 2001 löste nicht nur im Feuilleton zum Teil hoch polemische Diskussionen aus, ebenso seine umstrittenen Äußerungen aus seiner “Friedenspreisrede" von 1998.
“Jeder Mensch wird zum Dichter dadurch, daß er nicht sagen darf, was er möchte.”
Eine “Affirmationshyäne” war Walser nie. Seine Romane handeln von den Identitätsproblemen seiner kleinbürgerlichen Protagonisten, vom Kampf um ein stabiles Selbstbewußtsein und die gesellschaftliche Anerkennung. Seine Protagonisten neigen dazu, ihre jeweilige Situation gründlich zu reflektieren. Dieses an vielen Stellen in Walsers Werken kontrafaktuale Denken veranschaulicht den Dissens von Walsers Helden zu ihrer jeweiligen Lebenssituation. Im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit wuchs das Ausmaß dieser disparaten Gefühlslagen seiner Protagonisten enorm. Nicht zufällig liegen seine Figuren zu Beginn vieler Romane zunächst im eigenen Bett, um sich über sich selbst und die umgebende Umwelt Klarheit zu verschaffen.
Am vergangenen Freitag ist Martin Walser in seinem Bett eingeschlafen, seine Literatur wird niemals stumm bleiben.
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